BERLINALE 2015 - "The Tiger Lillies" spielen auf zum "Varieté" der Lebensabschnittsgefährten am Trapez

"Lebensabschnittsgefährten" - in "Varieté" verwirrt die Trapezkünstlerin Berta-Marie (Lya de Putti) die Männerherzen, hier das von Huller (Emil Jannings). Leider verlief auch ihr reales Leben sehr tragisch. Film-Still © Deutsche Kinemathek

Von unseren Berlinale-Korrespondenten Peer Kling und Elisabeth Niggemann

Ein Höhepunkt der Berlinale 2015 war die Uraufführung der digital restaurierten Fassung des 1925 unter der Regie von Ewald André Dupont gedrehten Stummfilms "Varieté". Es ist die dritte Verfilmung der Tragödie des Artisten Huller (Emil Jannings) nach Motiven des Romans "Der Eid des Stephan Huller", den Felix Holländer 1912 veröffentlichte. Die phantasievolle Live-Vertonung der "Tiger Lillies" machte den in der Retrospektive unter der Sparte Berlinale Classics gefeierten Stummfilm auch zum Hörerlebnis.
Das Eifersuchtsdrama zählt zu den bedeutendsten Werken des Weimarer Kinos und wurde für Dupont zum Ticket nach Hollywood. Durch die berühmte "entfesselte Kamera" von Karl Freund genießt der Film Weltruf. Die aufwendig restaurierte Fassung mit der Neuvertonung durch "The Tiger Lillies" von Martyn Jacques belebt die Zirkus-Atmosphäre dieses Klassikers im Spannungsfeld menschlicher Zerreißproben in faszinierender Weise aufs Neue. Durch die "Tiger Lillies" gerät der Stummfilm zum Ohrwurm.

Der Film aus einer Zeit unbändiger Sensationslust ist voller Dynamik. Die subjektive Kamera pendelt am Trapez und Du bekommst das Gefühl in schwindelnder Höhe, selbst durch die Luft zu fliegen, unter Dir, das kreischende Publikum, in der Verzerrung der Geschwindigkeit. Du wirst selbst zum Fänger am Trapez. Das "motion picture" zeigt aber auch die innere Bewegung. Die im Stummfilm geforderte übertriebene Mimik spiegelt die von Eifersucht zerfressenen Gefühle.
Die ursprüngliche Vierecksgeschichte konzentriert sich nun auf das Dreieck der Trapezkünstler, dargestellt von den Stars Emil Jannings, Lya de Putti und Warwick Ward. Der unbekannteste der Darsteller hat die glaubhafteste Figur für einen Trapezkünstler. Bei Emil lässt der Sitz des Jacketts an Speck und Kohlrouladen denken. Auch der Vorname seiner Trapez-Partnerin BERTA weckt gewisse Wortspiel-Assoziationen...
Für Emil Jannings ist Varieté fünf Jahre vor dem "blauen Engel" schon die 52te Filmrolle. Er ist der erste Oscar-Preisträger überhaupt und der einzige Deutsche, der als bester Darsteller ausgezeichnet wurde. Den wollten sie haben, am Trapez.
Für die Weltsensation des dreifachen Saltomortale, der ja nicht aus Laune mortale heißt, standen die "Codonas" zur Verfügung, die einzige Truppe weltweit, die diesen Höhenflug damals beherrschte. Sie traten im Berliner Wintergarten auf. Dort spielt auch der Film.

In der Rolle der Trapezkünstlerin Berta-Marie verwirrt Lya de Putti die Männerherzen. Leider verlief auch ihr reales Leben sehr tragisch. Lya war die jüngste Tochter eines ungarischen Offiziers italienischer Abstammung. Sie wuchs auf dem elterlichen Landsitz in Rumänien auf. Mit 16 Jahren heiratete sie den Landrat Szepessy. Kurz nach der Geburt der zweiten Tochter verließ Lya ihre Familie und ging nach Budapest. Gefangen in den Traditionen der konservativen Landaristokratie inszenierte der Verlassene eine fiktive Beerdigung seiner Ehefrau. Schon sechs Jahre nach "Varieté" endete das Leben der Schauspielerin und Tänzerin im zarten Alter von 34 Jahren auf tragische Weise in New York. Lya verschluckte äußerst unglücklich einen Hühnerknochen, der durch eine Notoperation entfernt werden musste. Durch Komplikationen kam es zu einer Blutvergiftung, welche Putti, bereits geschwächt durch eine Lungenentzündung, nicht überlebte. Wenige Wochen nach dem Tod von Lya beging Szepessy Selbstmord. Tröstlich: Mit dem Film "Varieté" machte sich Lya de Putti unsterblich.



Zusammenarbeit bei der Restaurierung
Die Restaurierung erfolgte durch die Friedrich-Wilhelm-Murnau-Stiftung in Wiesbaden in Zusammenarbeit mit dem Filmarchiv Austria in Wien. Grundlage war eine für den amerikanischen Vertreib aus Zensurgründen gekürzte Nitrokopie aus der Library of Congress in Washington. Die deutschen Zwischentitel und fehlende Teile stammen aus der Nitrokopie des Filmarchivs Austria. Vereinzelte Einstellungen wurden aus einer Duplikat-Kopie des Filmmuseum München und einem Duplikat-Negativ des Museum of Modern Art in New York ergänzt. Fehlende Zwischentitel wurden auf Grundlage der Zulassungskarte und Typografie der Titel der Wiener Kopie rekonstruiert. Die digitale Bildrestaurierung in 2K-Auflösung führte das Filmarchiv Austria durch.

Film ist und bleibt Teamwork, erst bei der Entstehung, dann bei der Wiederherstellung. Durch die Pflichtablieferungsverordnung im Rahmen des Gesetztes über die Deutsche Nationalbibliothek ist unter anderem ein als unbegrenzt vorgesehenes Überleben eines jeden in Deutschland erschienenen Buches in zwei Exemplaren an zwei Standorten garantiert. Der Sammelauftrag geht noch viel weiter, umfasst aber eben keine Filmkopien. Gerade jetzt in der Zeit der vollendeten Umstellung auf eine digitale Kinowelt, laufen viele Silberkopien, Gefahr, absichtlich zerstört zu werden. Aus Furcht vor Piraterie werden sie nicht den Sammlern überlassen. Zugegeben, eine Nitrokopie ist eine tickende Zeitbombe und schreit ohnehin nach Sicherheit, aber die Polyesterkopien der jüngsten Zeit brauchen theoretisch nur eines: PLATZ. Aber der Traum eines gesetzlich geregelten institutionellen Aufbewahrens ist ge-PLATZ-t. Freuen wir uns also über das Wort Wiederherstellung, vortrefflich gelungen bei "Varieté".

Warwick Ward und Lya de Putti kurz vor dem dreifachen Saltomortale in "Varieté" Foto: Berlinale

Emil Jannings in "Varieté". Die Eifersucht verfinstert seine Miene. Foto: Szenenbild aus dem Film

The Tiger Lillies machen den Stummfilm "Varieté" zum Ohrwurm. Foto: © Felix Groteloh

Wer keine Möglichkeit hat, "Varieté" in der restaurierten Fassung mit der Vertonung der Tiger Lillies zu sehen, bekommt die DVD für 12.99 im Handel mit der US-Fassung als Zugabe.