Berlinale 2012 Retrospektive

Die rote Traumfabrik
Eindrücke von Peer Kling und Elisabeth Niggemann

Die Berlinale hat sich immer als politisches Festival verstanden und hatte zu Zeiten des Eisernen Vorhangs eine wichtige integrierende Funktion. Als dann die Giftschränke der Zensur geöffnet wurden und russische Meisterwerke Jahrzehnte nach Fertigstellung Premiere feierten, hatten nicht nur die Russland stämmigen Kinobesucher neben uns Tränen in den Augen.

Die diesjährige Retrospektive übertitelt mit Die rote Traumfabrik ist wie ein eigenes Filmfestival innerhalb der Berliner Filmfestspiele. "Mit der Macht des Films wollten sie die Welt verändern und der Geschichte ins Rad greifen." So die Einleitung des sechsseitigen Textes zum Sonderprogramm im Berlinale Journal, das 43 Stumm- und Tonfilme vorstellt.

Eisensteins "Oktober"
Als herausragendes Großereignis feierte die restaurierte Fassung des legendären russischen Revolutionsfilms "Oktober" im Friedrichstadt Palast ihre Premiere. Wir konnten der Generalprobe beiwohnen. Der 1928 uraufgeführte Film beschreibt die geschichtlichen Ereignisse von der Februar-Revolution bis zum Oktober 1917.

Regisseur Sergej Eisenstein hatte zum 10. Jahrestag der Oktoberrevolution einen Jubiläumsfilm geschaffen, der auch in ästhetischer Hinsicht radikal neue Maßstäbe setzte. Mit Hilfe der "intellektuellen Montage” stellt der Film die historischen Ereignisse als einen explosiven Prozess der Befreiung aus langer Unterdrückung dar. Dadurch fiel er jedoch unter das berüchtigte Formalismus-Verdikt, mit dem fast alle Produktionen der Filmavantgarde in den sowjetrussischen Kinos verboten wurden.

Jahrzehntelang blieb der Film unter Verschluss. Seine authentisch anmutenden aber nachgespielten Revolutionsbilder wurden jedoch in Ermangelung von Originalaufnahmen häufig wie Dokumentarmaterial genutzt. Mitte der 60-er Jahre erstellte das Staatliche Filmarchiv Gosfilmofond eine fundierte Rekonstruktion von "Oktober”. Auf dieser Version basiert die neue digitale HD-Restaurierung des Filmmuseums München.

Generalprobe der Sondervorführung des 1928 uraufgeführten Revolutionsfilms "Oktober", live begleitet vom Rundfunk-Sinfonieorchester Berlin unter der Leitung von Frank Strobel. (Foto: Peer Kling)


Die Filmmusik von Edmund Meisel (1894-1930) ist die große Wiederentdeckung. Überliefert ist neben einigen Orchesterstimmen, hauptsächlich Streicher und Schlagzeug, der Klavierauszug der deutschen Verleih-Fassung. Der Mainzer Komponist Bernd Thewes hat sie nach Materialien aus dem Russischen Staatsarchiv und dem British Film Institute rekonstruiert und um 20 Minuten ergänzt.

Meisel plante seine Musik nach einem Steigerungssystem, das die fortschreitende Handlung unterstreichen sollte. Das Resultat wurde bei der Premiere 1928 sehr kontrovers aufgenommen und erinnert mit seiner geräuschhaften Klanglichkeit und Rhythmisierung an Punk- und Technomusik.

Am 15. Februar 2012 zeigt ARTE den Film als deutsch-französische TV-Erstausstrahlung.

Der stattliche Friedrichstadt Palast sonst Adresse für Shows und Revuen stand zehn Tage lang ganz im Zeichen der Berlinale 10.2.2012. (Foto: Peer Kling)