BERLINALE 2015 - Silberne Bären

Bei der Vergabe der Silbernen Berliner Bären fällt die starke Präsenz Südamerikas und Osteuropas auf. Bleibt zu wünschen, dass die Auszeichnungen einen Kinostart auch hierzulande erleichtern und der frische Wind der ausgezeichneten Filme landesweit zu sehen ist. Zu den leer ausgegangenen Kandidaten zählen wohlbekannte Namen. Allerdinges stehen hier die Starttermine für die Lichtspielhäuser schon großenteils fest.



Von unseren Berlinale Korrespondenten Peer Kling & Elisabeth Niggemann




Silberner Bär (Großer Preis der Jury)
 für "El Club" von Pablo Larrain aus Chile



Eine Gruppe von Priestern lebt gemeinsam mit der Ordensschwester Mónica in einem Haus an der chilenischen Küste. Alle haben sie Dreck am Stecken, offensichtlich das Auswahlkriterium für die Obrigkeit besonders die fehlgeleiteten "mit-GLIED-er" von „El Club“ in ein Gott vergessenes Kaff zu beordern und somit aus dem Verkehr zu ziehen. Was zunächst wie eine den Hunderennen verschriebene Wohngemeinschaft von Windhund-Züchtern anmutet, gerät bald zum Spannungsfeld zwischen Aufklärung diverser Spielarten von Kindsmissbrauch und deren perfider Vertuschung. Die Vergehen sind die eine Seite, davon haben wir gehört. Doch der Film setzt noch eins oben drauf. Ein Kirchengesandter kommt unter dem Fähnchen der Aufhellung, doch seine gnadenlose auch von brutaler Gewalt nicht zurückschreckende Mission gilt einzig der Verdunkelung. Rund um den mit schockierenden Elementen angereicherten Film entflammten sich gleich nach der Vorführung heiße Diskussionen, nicht nur in der Pressekonferenz.


Der chilenische Regisseur Pablo Larrain zwischen den Polen der Darsteller. Roberto Farías, links spielte die Rolle eines Missbrauchsopfers, das Jahrzehnte später Genugtuung von den Priestern fordert. Alfredo Castro, rechts spielte einen von ihnen. Foto: Peer Kling


Den Silbernen Berliner Bären für die beste Regie teilten sich Radu Jude aus Rumänien für "Aferim!" und Malgorzata Szumowska aus Polen für "Body"

"Aferim!" ist ein auf historischen Dokumenten und Liedern beruhender Balkan-Western in Schwarz-Weiß. In eindrucksvollen Bildern erfahren wir von Machtverhältnissen und Hierarchien im spätfeudalen Europa von 1835, vom Umgang mit Minderheiten und den Konflikten, die daraus erwachsen. Angehörige unterschiedlicher Nationalitäten und verschiedenen Glaubens treffen aufeinander, Türken, Russen, Christen, Juden, Rumänen und Ungarn. Als äußere Handlung verfolgt der Film im wahrsten Sinne des Wortes und in kontinuierlicher Gestaltung der Zeitschiene einen "Übeltäter". Die Jagd führt uns quer durch die Walachei. Als Zuschauer ist man irritiert und verunsichert über die zugrunde liegenden Gesetze und Moralvorstellungen.


links: Mihai Comanoiu als pflichtbewusster Sohn des Gendarmen (nicht im Bild) in der zufälligen Begegnung mit einem Kind. Foto: Berlinale

"Body" schildert die gefühlsmäßige gegenseitige Annäherung eines Untersuchungsrichters und seiner magersüchtigen Tochter. Zur Entfernung der beiden voneinander hat offensichtlich der frühe Tod der Mutter geführt, ein Schmerz, den die Tochter nicht verwindet.
Der Titel "Body" bezieht sich zum einen auf die vielen Toten, denen der Vater in seinem beruflichen Alltag begegnet, meint aber auch die Bestrafung des eigenen Körpers der Tochter aus Seelennot. Eine Therapeutin, selbst traumatisiert durch den Verlust ihres Babys durch plötzlichen Kindstod sucht in der Esoterik Kraft und Heilung. Der mit Stilmitteln der schwarzen Komödie arbeitende Film gibt Hoffnung, da sich die Charaktere aus ihrer starren Haltung befreien und zueinander finden. Durch den Schleier der äußeren Handlung schimmert stets die Suche nach Empathie, der Kampf von Rationalität mit dem Übersinnlichen und der Versuch bei aller Trauer, das eigene Leben anzunehmen und zu gestalten.




Die Schauspielerin Justy Suwala aus "Body": Sprühend und vital auf der Pressekonferenz, lethargisch und weniger werdend in ihrer Rolle. Foto: Peer Kling






Malgorzata Szumowska führte Regie bei "Body". Foto: Peer Kling

Janusz Gajos zählt zu den bekanntesten Schauspielern Polens. Er spielte den rationalen Vater in "Body". Foto: Peer Kling



Der Silberne Bär für das beste Drehbuch ging an Patricio Guzmán für "The Pearl Button" - "Der Perlmuttknopf" (Chile)

"The Pearl Button" – "Der Perlmuttknopf" ist ein Dokumentarfilm, der die Zuschauer den Atem anhalten lässt. Zum einen feiert er auf poetische Weise die Natur. Aber der Zauber gerät zum Schreckgespenst, wenn aus der Weite des Ozeans Fundstücke wie etwa Perlmuttknöpfe geborgen werden, die bald deutlich werden als Symbole und Beweisstücke für schwerwiegende Massaker, Folter und sonstige Menschenrechtsverletzungen. Im Film werden grausame politische Morde rekonstruiert. Dazu passt die derzeitige Plakat-Kampagne von Misereor in Berlin und anderswo mit der Erkenntnis: "Mut ist, Verbrechen zu beweisen, die angeblich nie passiert sind."




Passend zum Dokumentarfilm "Der Perlmuttknopf" die Werbeplakate von Misereor in 
Berlin: "Mut ist, ..."



Guzmán zeigt Ausschitte aus der übernatürlichen Landschaft Chiles mit einer 4300 Kilometer langen Küste, dem größten Archipel der Welt, Bilder von Vulkanen, Bergen und Gletschern. Aber viele der Naturschönheiten sind mit trauriger Wahrheit verbunden und so ist der Film auch ein Lehrstück im Nichtvergessen.

Auch im wirklichen Leben ein Team: Patricio Guzmán, Regisseur von "The Pearl Button" - "Der Perlmuttknopf" und Renate Sachse, Produzentin. Foto: Peer Kling





Beste Darsteller

Die Silbernen Bären für die beste Darstellerin/den besten Darsteller gingen an Charlotte Rampling und Tom Courtenay, die in dem britischen Film "45" als Kate und Geoff ein Ehepaar kurz vor dem 45ten Hochzeitstag darstellen. Die lange gemeinsame Zeit erscheint plötzlich unter einem ganz neuen Licht, als nach 50 Jahren die Nachricht über den Fund des Leichnams von Geoffs früherer Freundin in den Schweizer Alpen die Ruheständler kräftig aufmischt oder gar die Ehe, zumindest die bevorstehende Feier auf die existentielle Probe stellt. Ein Katalog von Fragen entsteht wie aus dem Nichts oder eben aus dem halt doch nicht so ewigen Eis des Gletschers.



Mit "45" in Berlin zu Gast: (v.l.n.r.): Produzent Tristan Goligher, Charlotte Rampling, Regisseur Andrew Haigh, Sir Tom Courtenay. Foto: Peer Kling




Als Herausforderung für die beiden Preisträger galt es, die jeweils innerlich aufgewühlten Gefühlswelten ihrer Rollen durch Bewegung, Haltung, Mimik, Blick und Gestik zu vermitteln und aufleben zu lassen. Dankesreden bei Feiern können langweilig sein, nicht so hier. Wir kleben förmlich an Geoffs Lippen, so spannend ist es, wenn er seinen Innenkosmos nach außen spiegelt und uns nach seiner inneren Zerreißprobe an seiner Entscheidung teilhaben lässt. Tom Courtenay ließ uns in Berlin wissen, dass die Beschäftigung mit dieser Rolle auch für sein eigenes Leben von Bedeutung ist. Charlotte Rampling, die am ersten Berlinale-Tag ihren 70ten Geburtstag feierte, hatte so einige Brüche in ihrem Werdegang zu überwinden, sozusagen die Vorbereitung durch das Leben für Rollen, in denen auch nicht alles glatt läuft. Charlotte ist ein gern und oft gesehener Gast der Berlinale. Die Charakterdarstellerin war 2006 Präsidentin der Berlinale-Jury. Nun trägt sie selbst Silber nach Hause. Ihr Vater errang in Berlin bei den Olympischen Spielen 1936 eine Goldmedaille.


Der Silberne Bär (Alfred-Bauer-Preis) für einen Film, der neue Perspektiven eröffnet ging an "Ixcanul" von Jayro Bustamante aus Guatemala

Dieser Film ist ein stiller Schrei nach Gerechtigkeit, Gleichbehandlung und Lebenschancen. Die Armut droht diesen Schrei zu ersticken. "Kein Geld - keine Gerechtigkeit". Stattdessen Lug, Betrug und Willkür. Im Mittelpunkt der Geschichte steht die 17-jährige Kaqchiquel-Maya-Frau Maria, die dem schweren Leben als Arbeiterin auf einer Kaffeeplantage am Fuße eines aktiven Vulkans entfliehen möchte. Auch der von den Eltern für sie vorgesehene Ehemann liegt ihr nicht. Sie hält sich an einen Kaffeepflücker, der seine Flucht in die USA vorbereitet. Doch sie bleibt zurück, schwanger und das fehlende Geld lässt ihr noch nicht einmal die Hoffnung auf ihr Kind.
Die Kaqchikel sind ein indigenes Volk in Guatemala, das zur Großgruppe der Maya gehört. Die gleichnamige Sprache wird noch von 400.000 Menschen gesprochen. Das Cakchiquel-Reich wurde im Jahr 1524 von dem spanischen Conquistador Pedro de Alvarado erobert.

Regisseur von Jayro Bustamante wuchs selbst in der Region der Kaqchiquel-Mayas auf und kehrte für seinen Film dorthin zurück. Stehend: María Mercedes Coroy. Ihre Namenscousine Maria ist ihre erste Rolle als Schauspielerin. Sie möchte gerne in diesem Metier bleiben. María Telón spielt die Mutter Marías. Sie hat bereits Schauspielerfahrung. Beide sprechen neben ihrer Muttersprache Kaqchiquel auch spanisch. Foto: Peer Kling

Wie der Regiepreis wurde auch der Technikpreis geteilt. Für die Kamera ging je ein Silberner Bär an "Victoria" (Deutschland) und an "Under Electric Clouds" (Russland, Ukraine, Polen)

"Victoria"

Der 1999 mit "Absolute Giganten" bekannt gewordene Regisseur Sebastian Schipper dreht mit "Victoria", Achtung! Gauner- statt Filmsprache, ein Ding im nächtlichen Berlin. Ahnungslosigkeit, volles Risiko, Abhängigkeit von ranghöheren Ganoven und frisches Verliebtsein sind die Zutaten für einen am Ende doch sehr blutigen Parforceritt, der sich gewaschen hat. Frederick Lau, im Film heißt er "Sonne", spielt gerne Looser-Typen. In diesem Film verlieren junge Menschen aus Arglosigkeit oder ist es doch Dummheit, jedenfalls Übermut ihr Leben und "Victoria" steht ganz bestimmt nicht für Victory.

Die große Besonderheit ist, dass der gesamte Film in Echtzeit in einem Take gedreht wurde. Das ist "echt 'n Ding"! Die Eskalation Richtung Verderben zieht uns in einen derartigen Sog, dass wir rufen möchten: "Halt, nicht tun! Renn weg!" Aber da hat diese mit dem Silbernen Bären belohnte Dreharbeit schon wieder an Vorsprung gewonnen. Das Tempo des Films arbeitet längst im Unterbewusstsein des Zuschauers. Die distanzierte Reflektion, wer, wann, wie die Kamera hält, weicht dem Ringen nach Atem. Wir sind mittendrin.

Für den 1980 in Trondheim geborenen Kameramann Sturla Brandth Grøvlen waren die 140 Minuten an einem Stück (!) auch eine "absolut gigantische" körperliche Leistung. Grøvlen filmte zuvor das Drama "I Am Here" von Anders Morgenthaler mit Kim Basinger und Sebastian Schipper in den Hauptrollen. Schipper engagierte Grøvlen anschließend für seinen eigenen Film "Victoria".

Kinostart: 11. Juni 2015




(Noch) glückliche Szene aus "Victoria": Frisch verliebt, für "Sonne" (Frederick Lau) und Victoria (Laia Costa) dreht sich alles im Kreis. Foto: Berlinale





"Under Electric Clouds"

Bei so vielen Filmen am Tag, lässt die Konzentration nach. Die Dialoge in russischer Sprache reflektieren Vergangenheit und Zukunft von dem, was früher Sowjetunion hieß. Wenn schnell gesprochen wird, fällt es nicht leicht, den englischen Untertiteln zu folgen. Oder waren es doch deutsche? Zuweilen gab es auch ein "Kreuzverhör" in zwei verschiedenen Sprachen, in Gelb englisch, ganz in Weiß deutsch. Das Hirn mag dann noch alle Bilder, die gesprochene Sprache und die Musik verarbeiten.

Auf eine Handlung im engeren Sinne einer Geschichte verzichtet die Regie von Alexey German Jr.; sein Vater der Senior war ein berühmter russischer Regisseur. Der Apfel fällt nicht weit vom Birnbaum. In Erinnerung bleiben bizarre Architektur-Ruinen als Metapher für den Ruin schlechthin. Musste die Kamera bei "Victoria" stets hinterherhecheln und -hechten, so steht bei der "elektrischen Wolke" eher die Komposition der Bilder im Vordergrund in einer Choreographie des Tanzes zwischen Mensch und Kamera, für es gleich zwei Verantwortliche gab: Sergey Mikhalchuk und Evgeniy Privin.

Herzlichen Glückwunsch!








In "Under Electric Clouds" von Alexey German Jr. spricht die bizarre Bildsprache oft "Beton". Eine Ästhetik des Verfalls reflektiert das Woher? und Wohin? Foto: Berlinale