Berlinale 2016 - FUOCOAMMARE (FIRE AT SEA) erhält den Goldenen Bären als bester Film

Höchste Auszeichnung bei der 66. Berlinale für einen Dokumentarfilm

von unseren Berlinale-Korrespondenten Peer Kling und Elisabeth Niggemann



Das diesjährige "Zehntagerennen" der Berlinale, dem drittgrößten Filmfestival Europas stand unter dem Motto: "Das Recht auf Glück". Die Präsenz von Dokumentarfilmen war erfreulich stark. Sogar am Wettbewerb nahmen zwei Vertreter dieser nicht selten stiefmütterlich behandelten Gattung teil. Die Pressevorführung des ersten, FUOCOAMMARE (FIRE AT SEA) lief schon am dritten Festivaltag morgens um neun Uhr im Berlinale-Palast, der größten Spielstätte Berlins. Am Ende der voll besetzten Vorführung war uns klar, wir sind soeben dem Gewinner des Goldenen Bären für den besten Film begegnet. Der nicht abreißende Beifall zu Beginn der Pressekonferenz gleich nach der Projektion nährte verstärkend diesen Eindruck. Und so geschah es denn auch. Sieben Tage später nahm der Regisseur, Drehbuchautor, Kameramann, Tonaufzeichner und Mitproduzent des Films Gianfranco Rosi die höchste Auszeichnung des Festivals entgegen.

Das Einmann-Team Gianfranco Rosi, hier auf dem Podium der Pressekonferenz, zeichnet verantwortlich für den Gewinnerfilm Fuocoammare
Foto: Peer Kling
Was ist das für ein Dokument? Vordergründig ist es ein Film über Lampedusa, die 20 Quadratkilometer kleine und doch größte der Pelagischen Inseln im Mittelmeer, rund 205 Kilometer südlich von Sizilien und etwa 130 Kilometer östlich von Zentral-Tunesien gelegen. Der 12jährige Samuele ist eine Art mediterraner Tom Sawyer. Er drückt sich vor der Schule und geht lieber auf Streifzüge entlang des Strandes, klettert auf Bäume, übt zielen mit seiner Schleuder und genießt es, Spaghetti mit Tomatensoße mit lautem Geräusch in sich hinein zu saugen. Trotz seines Augenfehlers kann er aus vollen Zügen sein jugendliches Leben genießen. Sein eigentlich doch eher bescheidenes Glück ist das große Kontrastprogramm zu dem hintergründigen Thema des Films. Es geht um das von Menschen verursachte Unglück für Tausende von Menschen. Wir sehen die völlig entkräfteten und die bereits gestorbenen Opfer. Wir sehen die Aufopferung der Helfer, die übermenschliches leisten. Und wir fühlen den Ballast der Millionen, die dieses Leid einfach geschehen lassen. Ein Artikel zum Film ist überschrieben mit Mare Monstrum, aber die eigentliche Ursache für das Unheil sind doch wir Menschen, nicht das Meer. Es geht um die unzähligen Toten im Flüchtlingsstrom von Afrika nach Italien.

Wenn man die Buchstaben von Lampedusa ein wenig schüttelt bis sie umsortiert und einige von ihnen verloren gegangen sind, dann steht man vor dem Floß der Medusa, dem Synonym für Schiffbruch und menschliche Grausamkeit. Genau darum geht es.



Schlepperbanden nehmen Flüchtlingen aus Afrika unbezahlbare Summen ab, pferchen sie in viel zu kleine, total überladene Boote. Wir wissen das, aber das Wissen bleibt abstrakt. Am Ende dieses Films haben wir es durchlebt. Die Toten sind echt. Es wird diskutiert, ob so etwas gezeigt werden darf. Ja, es muss gezeigt werden. Das Wegsehen muss ein Ende haben. Unterlassene Hilfeleistung ist ein schweres Vergehen. Die Todesengel folgen verschiedenen Melodien. Erschöpfung, Kreislaufversagen, Verdursten, Ersticken und das Ertrinken sind Todesursachen. Und eine Gefahr, um die die wenigsten wissen, liegt in den Verätzungen der einem Gemisch aus Treibstoff und Salzwasser ausgesetzten Epidermis. Der Film geht sprichwörtlich unter die Haut.

Der 1964 in Asmara, Eritrea geborene Regisseur Gianfranco Rosi kennt die Angst aus eigenem Erleben. Als Dreizehnjähriger wurde er während des Unabhängigkeitskrieges ohne seine Familie nach Italien evakuiert. Er lebte in Rom, später in Istanbul. BOATMAN, sein Film zum Studienabschluss in New York, wurde auf Festivals in Sundace, Locarno, Toronto und Amsterdam präsentiert. 2013 wurde seine Rom-Dokumentation DAS ANDERE ROM - SACRO GRA in Venedig mit dem Goldenen Löwen ausgezeichnet.

Der in seinem nun vorgestellten FUOCOAMMARE porträtierte Insel-Arzt Pietro Bartolo ist ein Wohltäter der Menschheit. Der weise Mann hat unzählige Menschenleben gerettet. Dennoch erzählt er, wie er von ständig wiederkehrenden Alpträumen gepeinigt wird, weil ihn die Bilder der Toten immer wieder einholen. Obwohl jenseits der Kapazität des Erträglichen, ist es für die 4000 Seelen zählende Bevölkerung der Insel selbstverständlich einem Vielfachen ihrer eigenen Personenzahl zu helfen. Bartolo, der auch bei dem Pressegespräch in Berlin auf dem Podium saß, bringt es auf den Punkt: "Wir sind ein Volk des Meeres, das alles, was vom Ozean kommt, willkommen heißt."

Ein stiller Helfer der Menschheit, der Arzt Pietro Bartolo aus Lampedusa
Foto: Peer Kling