Berlinale - Die Jury „hat fertig“

Von unseren Berlinale-Korrespondenten Peer Kling und Elisabeth Niggemann

Gold

Der Goldene Bär für den besten Film, der Hauptpreis der Berlinale also, geht an die Produzenten von „Synonymes“ unter der Regie von Nadav Lapid. „Synonymes“ ist der fünfte Spielfilm des 1975 in Tel Aviv geborenen Regisseurs. Yoav (Tom Mercier), die Hauptfigur des Films, ist uneins mit der Politik seines Heimatlandes Israel und versucht einen Neustart in Paris. Ein gefühltes Fünftel der 123 Film-Minuten ist er nackt und bloß. Zu Beginn des, sagen wir 'mal Dramas, ist er gerade aus Israel in Paris eingeflogen, for good, wie die Amerikaner sagen würden, also für immer. Eine vollkommen leere Wohnung ist sein erstes Quartier. Als er aus der Dusche kommt, ist alles weg, auch seine Kleider. Kein guter Start. Später verdingt er sich als Model und nimmt eine Reihe von entwürdigenden Posen ein. Die Fortsetzung des Elends? Worum geht es hier denn eigentlich? Hören wir, was der Regisseur nach der Filmvorführung in freier Übersetzung gesagt hat. „Als ich vor fast 20 Jahren meinen dreieinhalbjährigen Militärdienst in Israel beendet habe, bin ich zurück nach Tel Aviv, wo ich aufgewachsen bin und habe Philosophie studiert. Nach einem Jahr folgte ich meiner inneren Stimme. Ich hatte das Bedürfnis zu fliehen und niemals zurückzukommen. Ich empfand die politische Situation in meinem Land als inakzeptabel und war nicht länger bereit zu gehorchen und mich mit diesem Staatsprogramm zu identifizieren. Ich bedauere, dass die Geschichte meines Landes eine Phase durchläuft, die von großer Feindseligkeit und Brutalität geprägt ist. Als ich am Flughafen Charles de Gaulle ankam, waren meine Zukunftspläne völlig offen, aber ich hatte den klaren Wunsch, in Paris zu leben und eines Tages auf dem Friedhof Père Lachaise begraben zu werden.“ Stellvertretend geht die Filmfigur Yoav soweit, dass sie nicht mehr hebräisch denken und sprechen möchte, weil damit zu viele schlechte Erinnerung einhergehen. Beim „Random Walk“ durch Paris hält er meist ein Büchlein in den Händen und wiederholt, einem Repetiergewehr ähnlich, Synonyme der französischen Sprache. Daher der Titel. Der Schauspieler Tom Mercier studierte am Yoram Levinstein Acting Studio in Tel Aviv. Die Hauptrolle, die er für „Synonyms“ im wahrsten Sinne des Wortes VERKÖRPERT, ist sein Filmdebut. Und dann gleich GOLD, Glückwunsch, besser kann es nicht laufen. Im wirklichen Leben hat auch er sich wie seine Filmfigur gegen Israel und für Paris entschieden. Dagegen ist der Regisseur Nadav Lapid bereits vor vielen Jahren wieder heimgekehrt und setzt sich mit den Geschicken seines Landes im Brennpunkt selbst auseinander. Wie wir den Film fanden? Wir bewundern vor allem den Mut und die Entschlusskraft wie sich ein Insider mit den Problemen seines Landes Israel auseinandersetzt.

Die Körperhaltung steht für „no future“ - Tom Mercier als Yoav in „Synonymes“ unter der Regie von Nadav Lapid
© Guy Ferrandis / SBS Films d

Eine mit Silber belohnte „Ozon Therapie“ für oder gegen die Katholische Kirche in Frankreich

Sein letzter Film „Frantz“ hat uns tief berührt und bewegt. Die eigenen Worte zu seinem Werk sind bei Wikipedia elektronisch in Stein gemeißelt: „Ich wollte davon erzählen, wie Lügen und Geheimnisse in dramatischen Zeiten wie des Krieges und der Krise den Menschen beim Überleben helfen können. Die Lüge ist eine Metapher für unser Bedürfnis und unsere Sehnsucht nach Fiktion – und daher auch nach Filmen.“ In gewisser Weise passen diese Worte auch auf seinen neuesten Film. Es geht um Verdrängung, um das Nicht-wahr-haben-wollen und um Vertuschung. Krieg mit der katholischen Kirche. Auf die Fehltritte folgt eine Welle wie nie zuvor: Austritte. Mit dem Silbernen Berliner Bären für „Grâce à Dieu“ („Gelobt sei Gott“) belohnt der große Preis der Jury die filmische Auseinandersetzung von Regisseur François Ozon um den noch in der Schwebe befindlichen Krieg, ehm, Prozess im Zusammenhang mit dem sexuellen Missbrauch in mehr als 70 Fällen an minderjährigen Schutz befohlenen Jungen innerhalb der Katholischen Kirche Frankreichs. „Eigentlich wollte ich einen Dokumentarfilm drehen,“ sagt François Ozon in Berlin, „… aber dann“ sinngemäß „haben wir bemerkt, dass es für die Opfer unerträglich heftig würde.“ Hauptschauplatz ist Lyon, aber da dort Politik und Kirche eng miteinander verwoben sind, wurden die Drehs prekärer Szenen lieber gleich an neutrale Orte verlegt, statt zu versuchen, in Lyon die Drehgenehmigungen einzuholen. Außerdem drängte die Zeit, denn Anfang März soll das Urteil gesprochen werden. Kardinal Barbarin und sechs weitere Angeklagte stehen derzeit in Lyon vor Gericht, wegen Nichtanzeige also wegen unterlassener Hilfeleistung. Die Übergriffe durch Pater Bernard Preynat (Darsteller, auch in den Rückblenden (?): Bernard Verley) fanden von 1986 bis 1991 statt. Der Pädophile, eigentlich sollte es heißen, der Kinderseelen-Zerstörer, war den Vorgesetzten als solcher bekannt. Sie stoppten ihn aber nicht wirksam. Immer wieder ist von Verjährung die Rede, „Grâce à Dieu (Gott sei Dank)“ bedankt sich der damalige Vorgesetzte Kardinal Barbarin, heute Erzbischof von Lyon öffentlich beim lieben Gott in einer Pressekonferenz. Gott dafür zu danken, dass die Vergehen nicht mehr geahndet werden können, klingt infam und blasphemisch. „Grâce à Dieu“ wurde zum ironisch sarkastischen Film-Titel, für den auch „Das Schweigen“ gepasst hätte. Der ist aber längst auf anderer Ebene vergeben und hat bereits den Stempel bedeutungsschwanger. Barbarin erregte Aufsehen, als er 1998 das Zölibat in Frage stellte. Das klang fortschrittlich. Reaktionär dagegen 2012 seine Abwehr-Haltung im Hinblick auf die Ehe für gleichgeschlechtliche Paare. Als mögliche Folgen nannte er die Aufhebung des Verbots von Polygamie oder Inzest. Das nur als Hintergrund. Der Film ist den Opfern gewidmet, nicht Barbarin. Viele Leben wurden stark negativ beeinträchtigt oder gänzlich zerstört. Die den Film tragende Figur ist zunächst das Opfer Alexandre (als Erwachsener dargestellt von: Melvil Poupaud). Erst viele Jahre nach den Vorfällen ist er in der Lage, den Stein ins Rollen zu bringen. Die erste Hälfte des Films ist durch ihm bestimmt, dann reicht er die Fackel weiter an François (Darsteller als Erwachsener: Denis Ménochet). Der französische Anwalt und Verteidiger des Priesters Reynat, Frédéric Doyez, versucht den für den 20. Februar geplanten Filmstart in Frankreich mit einer einstweiligen Verfügung zu untersagen. Es sei nicht hinzunehmen, dass ein Film zur Vorverurteilung seines Mandanten führe, der sich demnächst für pädophile Übergriffe in der Vergangenheit zu rechtfertigen hat. Viele Taten sind verjährt, aber ein neues Gesetz, „la Loi Schiappa“, hat die Verjährungsfristen für sexuell motivierte Straftaten verlängert.

Der atmosphärisch dichte, spannende und sehr sehenswerte Film trifft in die Mitte unserer Herzen und die Katholische Kirche voll auf die Zwölf.

Opfertreffen im Film „Grâce à Dieu“ mit Denis Ménochet, Eric Caravaca, Swann Arlaud, Melvil Poupaud.
Regie: François Ozon © Jean-Claude Moireau