Von unseren Berlinale Korrespondenten Peer Kling und Elisabeth Niggemann
Wir erinnern uns: Einer der größten Schocks, den Norwegen jemals in seiner Geschichte erleiden musste, war das Massaker vom 22.7.2011 durch einen als Polizist verkleideten rechtsextremistischen 32jährigen Amokläufer auf der kleinen Fjordinsel Utøya, 40 Kilometer westlich von Oslo. Bei einem Jugendlager der Arbeiterpartei vom damaligen Ministerpräsidenten und späteren NATO-Generalsekretär Jens Stoltenberg! 69 Menschen verloren dabei ihr Leben. Der gleiche Täter zündete bereits zwei Stunden zuvor eine Autobombe vor dem Bürogebäude des Ministerpräsidenten im Zentrum der norwegischen Hauptstadt. Bei dieser Explosion wurden acht Menschen getötet und weitere zehn Menschen verletzt.
Der norwegische Regisseur Erik Poppe stellte am Montag mit „Utøya 22. Juli“ einen Film gegen das Vergessen vor. Erst am Freitag um 3:00 Uhr morgens wurde sein Wettbewerbsbeitrag fertiggestellt. Es ist der Versuch, das Geschehen in einen Spielfilm zu fassen. Er beginnt mit dokumentarischen Aufnahmen von Überwachungskameras mit dem Bombenanschlag in Oslo, bedient sich dann aber eines besonderen Stilmittels, um die Geschehnisse auf der Insel nachvollziehbar zu machen. Die Kamera klebt ohne Schnitt 72 Minuten lang an Katja, einer fiktiven Teilnehmerin am Feriencamp. Ihr subjektives Empfinden geht in Fleisch und Blut des Zuschauers über. Dieses Stilmittel wurde auch in dem 2015 im Berlinale-Wettbewerb gezeigten Spielfilm „Victoria“ angewendet. Auch dieser Film besteht aus einer einzigen gar 140 Minuten langen Kameraeinstellung, für die der Kameramann Sturla Brandth Grøvlen, übrigens auch ein Norweger, den Silbernen Bären für die beste Kamera bekam.
Es ist interessant, dass der Zuschauer den ganzen Film über genauso wenig Möglichkeiten hat, irgendeiner Form irgendeine Art von Überblick oder Orientierung zu bekommen, was überhaupt los ist. Die Betroffenen denken zunächst an eine unangekündigte Übung. Die jungen Menschen rennen verzweifelt in den Wald. Die Salven der bedrohlich lauten Schüsse reißen nicht ab. Ihre Herkunftsrichtung ist nicht zu orten. Doch dann trifft Katja und damit der Zuschauer auf erste Opfer und die Angst wird eindeutig zur Überlebensangst. Neben der Nachvollziehbarkeit des subjektiven Erlebens macht der Film auch die überaus große Hilflosigkeit sichtbar. Niemand war auf etwas derartiges vorbereitet und den ganzen Film über sind die jungen Menschen dem Geschehen ohne jede Hilfe von außen wehrlos ausgeliefert. Den Täter und Töter sieht man nur einmal schemenhaft von weitem. Es könnten auch mehrere sein. Das Wasser ist zu kalt, um schwimmend zum Festland in Sicherheit zu gelangen. Die Situation scheint aussichtslos. Kitschig, reißerisch, geschmacklos urteilt der Rundfunk-Sender RBB. Ein Film gegen das Vergessen sagt wie der Regisseur das ZDF. „In Worten nicht fassbar“, meint das Nachrichtenmagazin FOCUS. Wann der Film hierzulande in die Kinos kommt und sie sich selbst ein Urteil bilden können, ist noch nicht klar.