Berlinale 2018 - Angst und Schrecken als Thema

Von unseren Berlinale Korrespondenten Peer Kling und Elisabeth Niggemann

Wir erinnern uns: Einer der größten Schocks, den Norwegen jemals in seiner Geschichte erleiden musste, war das Massaker vom 22.7.2011 durch einen als Polizist verkleideten rechtsextremistischen 32jährigen Amokläufer auf der kleinen Fjordinsel Utøya, 40 Kilometer westlich von Oslo. Bei einem Jugendlager der Arbeiterpartei vom damaligen Ministerpräsidenten und späteren NATO-Generalsekretär Jens Stoltenberg! 69 Menschen verloren dabei ihr Leben. Der gleiche Täter zündete bereits zwei Stunden zuvor eine Autobombe vor dem Bürogebäude des Ministerpräsidenten im Zentrum der norwegischen Hauptstadt. Bei dieser Explosion wurden acht Menschen getötet und weitere zehn Menschen verletzt.

Der norwegische Regisseur Erik Poppe stellte am Montag mit „Utøya 22. Juli“ einen Film gegen das Vergessen vor. Erst am Freitag um 3:00 Uhr morgens wurde sein Wettbewerbsbeitrag fertiggestellt. Es ist der Versuch, das Geschehen in einen Spielfilm zu fassen. Er beginnt mit dokumentarischen Aufnahmen von Überwachungskameras mit dem Bombenanschlag in Oslo, bedient sich dann aber eines besonderen Stilmittels, um die Geschehnisse auf der Insel nachvollziehbar zu machen. Die Kamera klebt ohne Schnitt 72 Minuten lang an Katja, einer fiktiven Teilnehmerin am Feriencamp. Ihr subjektives Empfinden geht in Fleisch und Blut des Zuschauers über. Dieses Stilmittel wurde auch in dem 2015 im Berlinale-Wettbewerb gezeigten Spielfilm „Victoria“ angewendet. Auch dieser Film besteht aus einer einzigen gar 140 Minuten langen Kameraeinstellung, für die der Kameramann Sturla Brandth Grøvlen, übrigens auch ein Norweger, den Silbernen Bären für die beste Kamera bekam.

Es ist interessant, dass der Zuschauer den ganzen Film über genauso wenig Möglichkeiten hat, irgendeiner Form irgendeine Art von Überblick oder Orientierung zu bekommen, was überhaupt los ist. Die Betroffenen denken zunächst an eine unangekündigte Übung. Die jungen Menschen rennen verzweifelt in den Wald. Die Salven der bedrohlich lauten Schüsse reißen nicht ab. Ihre Herkunftsrichtung ist nicht zu orten. Doch dann trifft Katja und damit der Zuschauer auf erste Opfer und die Angst wird eindeutig zur Überlebensangst. Neben der Nachvollziehbarkeit des subjektiven Erlebens macht der Film auch die überaus große Hilflosigkeit sichtbar. Niemand war auf etwas derartiges vorbereitet und den ganzen Film über sind die jungen Menschen dem Geschehen ohne jede Hilfe von außen wehrlos ausgeliefert. Den Täter und Töter sieht man nur einmal schemenhaft von weitem. Es könnten auch mehrere sein. Das Wasser ist zu kalt, um schwimmend zum Festland in Sicherheit zu gelangen. Die Situation scheint aussichtslos. Kitschig, reißerisch, geschmacklos urteilt der Rundfunk-Sender RBB. Ein Film gegen das Vergessen sagt wie der Regisseur das ZDF. „In Worten nicht fassbar“, meint das Nachrichtenmagazin FOCUS. Wann der Film hierzulande in die Kinos kommt und sie sich selbst ein Urteil bilden können, ist noch nicht klar.

Der norwegische Filmregisseur Erik Poppe begann seine Karriere als Pressefotograf. Nach dem Studium am Dramatiska Institutet in Stockholm war er als Kameramann an verschiedenen Spielfilmen beteiligt, bevor er mit „Schipaa“ sein Regiedebut vorlegte, das 1999 im Panorama innerhalb der Berlinale präsentiert wurde. Im vergangenen Jahr war Erik Poppe mit „The King's Choice“, einem Widerstandsdrama, das die Situation in Norwegen unmittelbar nach Einmarsch der Wehrmacht im April 1940 schildert, auf der Berlinale vertreten. Links im Bild Andrea Berntzen, die Hauptdarstellerin der fiktiven Person Katja.
Foto: Peer Kling

Auch für den Kameramann Martin Otterbeck war der Dreh eine Tour de Force. Er ist dem Geschehen mit seiner Handkamera 72 Minuten lang „hinterhergehechelt“. Der Film ist in einem Take entstanden ohne einen einzigen Schnitt. Diese Prozedur wurde an fünf Tagen jeweils einmal durchgehalten. Die beste Version wurde ausgewählt.
Foto: Peer Kling

Die Hauptdarstellerin Andrea Berntzen spielt das fiktive Schicksal von Katja. Sie hat physisch und psychisch eine Höchstleistung vollbracht. „Das Casting ist von entscheidender Bedeutung“, betont Regisseur Erik Poppe und ist stolz darauf, Andrea gefunden zu haben. Andrea hat zudem genau das Durchschnittsalter der Opfer. Sie ist heute 19 Jahre alt. Um alles durchzustehen, wurden die Schauspieler von Psychologen betreut. Um das Gefühl der Bedrohung den ganzen Dreh über aufrecht zu erhalten, waren über Lautsprecher andauernd die Schüsse zu hören. Die Geschichte von „Utøya 22. Juli“ wird aus dem Blickwinkel einer einzigen fiktiven Person erzählt.
Foto: Peer Kling

Eine Überlebende des Massakers von Utøya berichtet auf der Pressekonferenz zum Film von ihrem Er- und Überleben. Überlebende der Katastrophe wurden vor Erstellen des Drehbuchs eingehend befragt. Einige waren aber auch während des Drehs am Ort des Geschehens, um die Schauspieler/innen zu unterstützen.
Foto: Peer Kling