BERLINALE 2019 - aufgeschnappte Eindrücke der ersten vier Tage des Wettbewerbs

Von unseren Berlinale-Korrespondenten Peer Kling und Elisabeth Niggemann

Im Eröffnungsfilm „The Kindness of Strangers“ der Dänin Lone Scherfig verflechten sich nach und nach die Schicksale einzelner Verlierertypen an sowohl tristen wie auch sehr fotogenen Schauplätzen von New York. Ausgangspunkt ist die Flucht einer jungen Mutter, dargestellt von Zoe Kazan mit ihren beiden Söhnen in kindlichem Alter vor der häuslichen Gewalt des Polizisten-Ehemannes. In diesem Ensemblefilm verteidigen etwa zehn gleichbedeutende Hauptrollen ihre Lebensgrundlage und menschliche Würde gegen eine feindselige Welt. Die damit verbundene Liebeserklärung an New York und an die Heilsarmee-Mentalität der Amerikaner putzt der Spiegel als Sozialschmonzette runter. Von der Struktur her ähnelt der Film dem 2001 mit dem silbernen Bären ausgezeichneten "Italienisch für Anfänger", womit die Regisseurin Lone international bekannt wurde. Die Begegnungen in dem auf Russisch gebürsteten Restaurant „Winterpalais“ als Dreh- und Angelpunkt der Suchenden haben einen absurd märchenhaften Charme. Der Darsteller des Eigners Bill Nighy macht im Film und auf dem Podium der Pressekonferenz eine gute Figur. Das Bedürfnis anderen zu helfen bezeichnet er als „basic human instinct“: https://www.youtube.com/watch?v=8tyGMA-L8JI

Systemsprenger“ heißt der erste Langfilm der 36jährigen Nora Fingscheidt. Sie habe schon immer die Geschichte eines „wilden, wütenden Mädchens“ erzählen wollen, erklärt die Filmemacherin nach der Vorstellung. Es sollte ein junges Mädchen sein und keine Jugendliche, denn nach der Pubertät potenzieren sich die Probleme. Systemsprenger ist der inoffizielle Begriff für Problemfälle, bei denen eigentlich gar nichts mehr geht und alle Institutionen im Umfeld hilflos abwinken. Die fast zehnjährige Benni steht im Mittelpunkt eines Steuergelder verbrennenden Teams von hilflos ohnmächtigen Fürsorgerinnen, Heimpädagogen, Lehrerinnen, Psychologen, Krankenhausärzten, Schulbegleitern und Anti-Gewalttrainern. Die überforderte Mutter ist die Zentrale im „scheiternden Systemprozess“. Als Darstellerin des eigentlich auf den Namen Bernadette getauften zerstörerischen Energie-Bündels und Kraftausdruck-Lexikons, das im Film für sich einzig den Jungennamen Benni akzeptiert, hat sich als Nummer Vier beim Casting Helena Zengel vorgestellt. A perfect match und gleich jung. Dieses Sofortglück wollte das Team zunächst gar nicht glauben und hat weitergesucht. Nach der Filmpräsentation kein Enfant Terrible auf dem Podium, sondern eine intelligent charmante und selbstbewusste junge Persönlichkeit. Bravo!

Erst Schwanz, dann Fuchsschwanz
Dem psychopathischen Serienmörder aus den USA, den vergangenes Jahr Lars von Trier in Cannes in den Wettbewerb schickte, stellt Fatih Akin nun Fritz Honka mit seinem Film „Der Goldene Handschuh“ an die Seite. Wer sehen möchte, welcher Kraft und Anstrengung es bedarf, um mit dem Fuchsschwanz einen Kopf abzutrennen und wie man verhindert, dass bei den Nachbarn darunter das Blut durchtropft, kann das ab dem 21. Februar im Kino studieren, in Farbe. Der Horror in Tüten von der Reeperbahn verspricht stimmige Interieurs der 70er Jahre, eine aufwendige Maske und gute Schauspieler/innen. Vor 15 Jahren gewann Fatih Akin mit „Gegen die Wand“ den Goldenen Bären. Mal sehen, was jetzt passiert.

Beim Warten auf Mario Adorf, also auf den Film über ihn: „Es hätte schlimmer kommen können“, schwärmen wir unseren Nachbarinnen von dem Film „Mr. Jones“ vor. (Titelrolle: James Norton, Regie: Agnieszka Holland nach dem Drehbuch von Andrea Chalupas, die persönliche Überlieferungen ihres Großvaters einfließen lässt). Dieser Journalist berichtete 1933 in Großbritannien exklusiv über die NSDAP-Regierungsübernahme in Deutschland. Am 23. Februar konnte er Hitler in einer Junkers Ju 52/3m, dem damals schnellsten und modernsten Flugzeug der Welt, von Berlin nach Frankfurt am Main begleiten und interviewen. „Wenn das Flugzeug abstürzt, würde sich die ganze Geschichte Europas anders entwickeln,“ soll er gesagt haben. Der 141 minütige Film folgt dem so naiv gutgläubigen wie couragierten Journalisten mit dem Blick für die Zusammenhänge der Weltpolitik nach Moskau und weiter in die Ukraine. Er will über Stalins Misswirtschaft berichten, die Millionen von Hungertoten bis hin zu Kannibalismus verursacht. Das trachten die Russen zu verhindern und auch sein Landsmann und Pulitzer-Preisträger Walter Duranty (Peter Sarsgaard), der in seinen Berichten in der New York Times für Stalin Wesentliches verheimlicht oder beschönigt. „Zu pathetisch“, grätscht das wandelnde Filmlexikon mit dem grauen Dirigenten-Wuschel vor uns in die Unterhaltung. „Großes Kino“, meinen wir. Ein Film voller Bewegung. Beispiele sind die volle Fahrt voraus dahin dampfenden Lokomotiven oder Mr. Jones selbst einmal bei der Flucht durch den Schnee oder auf dem Fahrrad hin zur Wahrheitsverkündung gegenüber dem Zeitungs-Magnaten Hearst. Leider wurde Mr. Jones nur 30 Jahre alt, erschossen in der Mongolei. Er wusste zu viel.